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Neue Prioritäten in der russischen Außenpolitik: das „Projekt GUS"

Dmitrij Trenin, stellvertretender Direktor des Moscow Carnegie Center, analysiert die aktuelle russische Außenpolitik und kommt zu dem Schluss, dass sie sich vorrangig auf die direkten Nachbarstaaten der GUS konzentrieren wird. ➤ Aktuelle Beiträge zu Russland.

Zu Beginn der zweiten Präsidentschaft Wladimir Putins hat die Stabilisierung der Russischen Föderation eine neue Qualität angenommen. Es bestehen ein autoritäres politisches System, das sich vorwiegend auf die Bürokratie stützt, ein wachsender Kapitalismus, der eng mit der herrschenden Bürokratie verwachsen ist und eine Zivilgesellschaft, die sich noch nicht formiert hat und sich ihrer selbst noch nicht bewusst ist. Auf der internationalen Bühne ist Russland deutlich eine eigenständige Größe geblieben, wenn auch längst nicht mehr in dem Maße, wie die UdSSR eine war. Russland kann und will sich nicht in die erweiterten Strukturen des Westens integriert.

In seinem Staatswesen, dem Aufbau seiner Wirtschaft, dem Zustand seiner Zivilgesellschaft und in seiner Selbsteinschätzung unterscheidet sich Russland grundlegend von den Staaten Mittel- und Osteuropas, ebenso wie von der BRD und Japan, die in der Nachkriegszeit den Weg in die Westintegration wählten. Selbst in seiner geschwächten Position hält sich Russland für eine Großmacht, die sich ausschließlich an ihren eigenen Interessen orientieren kann. Nachdem ein „russischer Sonderweg" für die Gesellschaftsordnung verworfen wurde, beharrt die russische Führung auf einer eigenständigen Rolle, die das Land in der Welt zu spielen habe. Für sie bedeutet der Begriff „Integration" heute nicht einen Zusammenschluss mit einem bestimmten Teil der Welt, sondern die Entwicklung der Beziehungen mit der Weltgemeinschaft als solcher.

Die herrschende russische Elite hat sich von der Möglichkeit einer Juniorpartnerschaft mit den USA und einer zweitrangigen Mitgliedschaft in der Gemeinschaft des Westens losgesagt. Nach dem Zerfall der Sowjetunion verfestigte sich in der Elite die Auffassung, dass Außenpolitik ein Bereich für ‚Realpolitik’ ist. Dieser Auffassung zufolge besteht die Realpolitik des 21. Jahrhunderts aus Geopolitik und Geoökonomie, unter wesentlicher Beibehaltung militärischer Stärke. Eine ideologische Bindung der Regierung und gesellschaftliche Werte hingegen spielen in diesem Zusammenhang nicht die entscheidende Rolle.

Wladimir Putin betrachtet folglich die Beziehungen mit dem Westen nicht als ideologische oder wertebezogene Maxime der Politik, sondern als externes Reservoir, das der wirtschaftlichen Modernisierung des Landes dienlich sein kann. Im Unterschied zu seinen sowjetischen Vorgängern legt der zweite Präsident der Russischen Föderation den Schwerpunkt vor allem auf die Wirtschaft. Der Staatsunternehmer daheim wird zum aufgeklärten Großmächtler, wenn es um außenpolitische Fragen geht. Letztendliches Ziel des Putinschen Modernisierungsprojektes ist die Erhöhung des Gewichts Russlands, vor allem gegenüber den USA und der Europäischen Union.

Die derzeitige russische Führung erwartet vom Westen keine Hilfe. Die ausländische Hilfe, eine Art „Marshall-Plan für Russland" auf die in früheren Zeiten gezählt wurde, ist ausgeblieben. An Stelle der Parole „Der Westen wird uns schon helfen" ist jetzt ein anderes Motto im Umlauf: „Es wird uns niemand helfen, außer wir selbst". Der Kreml hat dem Ziel der Verdoppelung des russischen Bruttoinlandsproduktes absoluten Vorrang verliehen. Der Beitritt zur Welthandelsorganisation ist kein Selbstzweck. Um seine Wirtschaft erfolgreich zu diversifizieren und die Abhängigkeit vom Export von Energierohstoffen zu überwinden, ist Moskau zu protektionistischen Maßnahmen bereit. Ausländische Investitionen in die russische Wirtschaft gelten weiterhin als nützlich und wünschenswert, doch wird ihnen keine entscheidende Bedeutung beigemessen. Es wird davon ausgegangen, dass die russische Wirtschaft überwiegend auf der Basis russischen Kapitals wiederauferstehen wird.

Der Kreml hat seine Grundhaltung gegenüber den USA festgelegt. Da die Amerikaner nur starke Partner achten, muss Russland jene Komponenten nationaler Stärke - also das Atomwaffenpotential - beibehalten und ausbauen, die eine Ebenbürtigkeit mit den USA gewährleisten können. Eine Anbindung an die NATO würde Russland seiner strategischen Eigenständigkeit berauben und den Interessen der USA unterwerfen. Eine Konfrontation mit den USA wäre für Russland unvorteilhaft und gefährlich, doch ist auch ein gleichberechtigtes Bündnis kaum möglich. Es bleibt also lediglich eine begrenzte Partnerschaft im Konzert mit lokaler Gegnerschaft. Ein „Einzug ins europäische Haus" im Sinne einer Erfüllung der Mitgliedschaftskriterien der Europäischen Union stellt für Russland mit seinen vielen Problemen eine Aufgabe dar, die erst in unabsehbarer Zukunft bewältigt werden wird, um so mehr, als nicht nur wegen der Rückständigkeit des Landes und des niedrigen Lebensstandards der Bevölkerung keine Aussicht auf eine baldige Mitgliedschaft in der EU besteht. Russland ist groß genug, um als Mitglied die Europäische Union dominieren zu können. Vor diesem Hintergrund beschränkt sich das russisch-europäische Verhältnis auf Handels- und Wirtschaftsbeziehungen und rechtlich-politische Streitereien in Fragen der Menschenrechte und Grundfreiheiten.

Peking kann kein Juniorpartner Moskaus werden, eher im Gegenteil. Im Kreml wird erkannt, dass China eine zunehmend eigenständige Größe ist, die Mitte des 21. Jahrhunderts die weltweite Dominanz der USA herausfordern könnte. Vor diesem Hintergrund wird Russland in seinen Beziehungen zur Volksrepublik maximale Korrektheit walten lassen müssen, doch besteht die Hauptaufgabe der Asienpolitik Moskaus fortan in der Entwicklung und Förderung Sibiriens sowie des russischen Fernen Ostens.

Aus Sicht des Kremls bilden neben dem Atomwaffenpotential der Sitz im UNO-Sicherheitsrat sowie die Mitgliedschaft in der G-8 überaus wichtige Grundlagen für Russlands zukünftige Rolle in der Weltpolitik. Ungeachtet der hinsichtlich ihres formalen Status „zeitweilig unangemessenen" Stellung der Russischen Föderation, wird im Kreml davon ausgegangen, dass Moskau in Zukunft die globalen Geschicke aktiv mitbestimmen wird.

Angesichts mangelnder Ressourcen bekennt das offizielle Russland, dass es sich beschränken und auf die vordringlichen nationalen Interessen wird konzentrieren müssen. In den Augen der russischen Führung verfügt das Land über alle Voraussetzungen, um eine Großmacht zu sein, auch, wenn es derzeit nur eine Regionalmacht ist. Seine Interessen werden für absehbare Zeit auf die die GUS und zum Teil die baltischen Staaten beschränkt bleiben.

Eine Strategie für ein Wiedererstarken Russlands in der GUS

Es kann davon ausgegangen werden, dass Präsident Putin in seiner zweiten Amtszeit versuchen wird, die internationale Rolle und das Gewicht Russlands schrittweise auszubauen. Ein wichtiges Glied dieser Strategie wird in der Reorganisierung des postsowjetischen Raumes bestehen sowie darin, in diesem Raum ein neues Machtzentrum unter Moskauer Führung entstehen zu lassen. Diese neue Strategie Russlands können wir als „Projekt GUS" bezeichnen.

Es geht dabei nicht um die Bildung eines neuen Staatswesens nach Art der UdSSR, da die Staaten der GUS ihre staatliche Souveränität behalten werden. Allein Belarus könnte in dieser Hinsicht eine Ausnahme bilden, da es nicht ausgeschlossen ist, dass sich das Land nach dem Abtritt des Präsidenten Lukaschenko nach dem Vorbild des Beitritts der DDR zur BRD der Russischen Föderation anschließen wird. Zu den langfristigen Aufgaben Moskaus gehört die Umsetzung der Abkommen über einen einheitlichen Wirtschaftsraum der führenden GUS-Staaten, eine Zoll- und Währungsunion sowie ein System gemeinsamer Politik. Zur Schaffung dieses Machtzentrums werden die Expansion russischen Kapitals in die ehemaligen Sowjetrepubliken und eine verstärkte Bindungskraft der russischen Wirtschaft zu einem grundlegenden Faktor.

Gestützt auf stärkere wirtschaftliche Beziehungen, wird Moskau die GUS-Staaten zweifellos zu politischer Loyalität drängen, wobei Letzteren Teil des russischen Sicherheitssystems würden und vorrangige Beziehungen zu Dritten, also etwa den USA, der EU, China oder der Türkei, ausschließen müssten.

Wichtigstes Instrument zur Verwirklichung des „Projektes GUS“ werden entsprechende Abkommen mit den herrschenden Eliten der jeweiligen Länder sein. Dies wird die langwierige und mühselige Aufgabe mit sich bringen, in den Nachbarstaaten moskaufreundliche Lobbygruppen zu etablieren und den Einfluss prowestlicher Kreise schrittweise zu verringern und zu neutralisieren.

Eine Einschätzung der Umsetzbarkeit des „Projektes GUS"

Die politischen und wirtschaftlichen Systeme der GUS-Staaten sind den russischen im Grunde sehr ähnlich. In den meisten Staaten gibt es keine Aussichten auf eine baldige „Westintegration". Die Eliten, die schnell reich wurden und sich die Herrschaft gesichert haben, verfügen dennoch nicht über ein ausreichendes Selbstbewusstsein. Daher könnte eine Unterstützung durch Russland, die von materiellen Vorteilen begleitet wäre, eine gewisse Anziehungskraft ausüben, um so mehr, als die Aufgabe der Souveränität (die Ausnahme Belarus wurde bereits erwähnt) nicht zur Debatte stehen wird. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Moskau sein Ziel mit Leichtigkeit wird erreichen können. Antirussische, „antiimperiale" Haltungen sind überall stark verbreitet, wobei der stärkste Widerstand gegen das „Projekt GUS" in der Ukraine, der Republik Moldau und in Georgien zu erwarten ist.

Auch in Bezug auf die „externen" Akteure USA, EU, China und der Türkei wird Russland auf ernste Probleme stoßen. 2003 schlug der Versuch Putins, von Washington eine Anerkennung „besonderer russischer Interessen" im postsowjetischen Raum zu erhalten, fehl, ganz wie ein ähnlicher Vorstoß Jelzins vor zehn Jahren. Im Unterschied zu Jelzin ist Putin jedoch nicht gewillt zurück zu stecken, sondern zu handeln.

Im Kreml wird davon ausgegangen, dass die USA zu Beginn des 21. Jahrhunderts ganz mit dem Kampf gegen den internationalen Terrorismus sowie gegen die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen, mit der Umgestaltung des Nahen und Mittleren Ostens und schließlich mit den Herausforderungen der aufstrebenden Macht Chinas beschäftigt sein werden. Washington wird jedoch eine „Straffung" des postsowjetischen Raumes unter russischer Führung kaum unbeachtet lassen. Zwischen Russland und den USA sind Spannungen und Rivalität in der GUS unausweichlich, doch wenn die USA zu dem Schluss gelangten, Russland suche eine „imperiale Revanche", wäre eine zweite Auflage des Kalten Krieges mehr als wahrscheinlich. Eine neue Konfrontation wäre für beide Seiten gefährlich. Sie würde das noch nicht konsolidierte Russland auszehren und auch die USA überfordern.

Für die Europäische Union sind die Ukraine, Moldau und der Südkaukasus bereits zum „nahen Ausland" geworden. Eine aktive GUS-Politik Moskaus würde zu einer unmittelbaren Konkurrenz mit der EU um die zukünftige Orientierung dieser Länder führen. Falls die russische Politik hier auf militärischen Druck zurückgreifen würde, müsste Europa Russland erneut als Bedrohung seiner eigenen Sicherheit wahrnehmen. Die EU-Staaten sähen sich dann – unter anderem als Mitglieder der NATO – genötigt, gemeinsam mit den USA eine Eindämmungspolitik gegenüber Russland zu verfolgen.

Auch Peking bekundet sein definitives Interesse an den zentralasiatischen Staaten. Es fürchtete bislang, dass in dieser Region durch einen plötzlichen Rückzug Russlands ein Vakuum entstehen könnte, das zu einer verstärkten Präsenz der USA, zu Chaos oder zur Stärkung chinafeindlicher Separatisten und religiöser Extremisten führen könnte. Peking, das die Region als sein strategisches Hinterland und als potentielle Quelle seiner Energierohstoffe betrachtet, ist bemüht, seinen Einfluss in dieser Region auszuweiten. Die Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit ist vor allem ein Ausdruck der chinesischen Stellung in Zentralasien. Der Ausbau der Stellung Russlands ändert diese Situation. Falls Russland jedoch für China sicheres Hinterland sowie ein verlässlicher Energieversorger und Lieferant für Waffentechnik und Technologien bliebe, würde sich Peking kaum in scharfer Form einer Ausweitung des russischen Einflusses in der GUS entgegenstellen.

Die Türkei hat Mitte der neunziger Jahre den Höhepunkt ihres Einflusses und ihres Interesses an den Nachfolgestaaten der UdSSR überschritten. Die Stärkung des russischen Einflusses in der Kaspischen Region, insbesondere in Aserbaidschan, könnte das Aufleben antirussischer Stimmungen in der Türkei begünstigen, doch wird der russische Faktor im 21. Jahrhundert für die Türkei wohl eher von peripherer Bedeutung sein. Der Iran wird, wie im vergangenen Jahrzehnt, in erster Linie an Stabilität an seiner nördlichen Grenze interessiert sein und eine verstärkte russische Präsenz in dieser Region wird diesem Interesse entgegenkommen.

So werden Konflikte auf dem Gebiet der neuen unabhängigen Staaten fast ausschließlich mit den USA und Europa zu erwarten sein.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat die russische Außenpolitik ihre natürlichen räumlichen Grenzen erreicht. Die Schaffung eine einheitlichen Wirtschaftsraumes und eines regionalen Sicherheitssystems in einer Reihe postsowjetischer Staaten kann der Entwicklung Russlands neue Möglichkeiten eröffnen und ihr neue Impulse verschaffen. In diesem Sinne könnte sich das „Projekt GUS" als eine langfristige, auf 20-25 Jahre ausgelegte Strategie für ein Erstarken Russlands durchaus als realistisch erweisen.

Darüber hinaus müssen wir uns jedoch auch darüber im Klaren sein, das jeder Imperialismus, sei er nun konservativer oder liberaler Art, unserem Land nicht dienlich ist, da er große Anstrengungen abverlangen und unbedingt zu einer Konfrontation mit dem Westen führen würde. Die Beschäftigung mit geopolitischen Schachspielen würde zu einer Desorientierung und letztendlich einer Schwächung Russlands führen. Es muss berücksichtigt werden, dass in den Staaten der GUS unter Unabhängigkeit in erster Linie die Unabhängigkeit von Moskau verstanden wird. In dieser Situation kann nur eine von der GUS freiwillig anerkannte, auf wirtschaftlichen Erfolg und sozialen Fortschritt gegründete russische Führerschaft als erreichbares Ziel gelten. Für Russland besteht die größte Herausforderung des 21. Jahrhunderts darin, sich selbst zu modernisieren und sich an eine globalisierte Welt anzupassen.

Die Herausbildung eines russischen Machtzentrums wird eine Klärung der Beziehungen zu den USA und Europa notwendig machen. Dies ist eine schwierige Aufgabe, doch ist die russische Führung verpflichtet, es nicht zu einer Konfrontation mit dem Westen kommen zu lassen. Im Sicherheitsbereich decken sich viele Interessen Russlands und der USA, und ein gemeinsames Vorgehen gegen eine Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen und den internationalen Terrorismus bildet eine zwar schmale aber reale Grundlage für eine Zusammenarbeit mit dem Westen. Fragen der regionalen Stabilität, vor allem im Kaukasus und in Zentralasien bieten ähnliche Perspektiven für eine Zusammenarbeit. In Bezug auf die Beziehungen mit dem vereinigten Europa besteht eine vorrangige Aufgabe Moskaus in der Harmonisierung eines einheitlichen Wirtschaftsraumes der GUS mit der Wirtschaftszone der EU.

Das Hauptproblem des sich abzeichnenden „Projektes GUS“ besteht darin, dass Moskau hierzu eine langfristige Strategie, Mechanismen zu deren Umsetzung sowie entschlossene Verfechter fehlen. Dies macht das Projekt verwundbar und unstet. Das Bestreben, alles mit einem Schlag zu erreichen, ein Rückgriff auf militärische Optionen, das Festhalten am „Nullsummenprinzip" könnten nicht nur ein mögliches Erstarken Russlands in eine Schwächung verkehren, sondern das Land weit zurückwerfen.


Dmitrij Trenin ist stellvertretender Direktor des Moscow Carnegie Center. Dieser Artikel wurde als Beitrag eines Buchs zum zehnjährigen Bestehen des Zentrums in Moskau geschrieben und der Heinrich-Böll-Stiftung vom Autor freundlicherweise zur Verfügung gestellt. Quelle: carnegie.ru.